Die unendliche Geschichte des Verkehrskonzeptes

Seit mehreren Jahren gibt es Forderungen nach einem zeitgemäßen Verkehrs- und Mobilitätskonzept für Görlitz. In den letzten Wochen kochte das Thema hoch. Auslöser waren Berichte über geplante Verkehrsversuche, temporäre Straßensperrungen und den Aufbau von Popup-Stadtmöbeln in der Innenstadt. Wir versuchen einen Überblick zu geben. Was bislang geschah und was künftig geplant ist.

Status Quo

in Sachen Verkehrskonzept ist das Papier aus dem Jahr 2011. Es basiert auf Zahlen, die bis ins Jahr 2006 zurückreichen. Beschlossen wurde es für einen Zeitraum bis 2020. Das MHD ist deutlich überschritten. Was drinsteht, findet ihr hier: 

https://www.goerlitz.de/uploads/02-Buerger-Dokumente/Gesamtverkehrskonzept_Stadt_Goerlitz.pdf

Im Januar 2020

macht der Stadtrat Druck auf den OB, damit endlich ein Gesamtverkehrskonzept erarbeitet wird. Auslöser ist eine Beschlussvorlage für ein zusätzliches Parkdeck an der Jägerkaserne. Änderungsantrag der damaligen Bündnisfraktion aus BfG, Bündnisgrüne, Motor und SPD: „Der Oberbürgermeister wird beauftragt, die Diskussion für ein Gesamtverkehrskonzept durch den Stadtrat und die Stadtgesellschaft vorzubereiten und diesen Prozess nach der Sommerpause anzuschieben.“ Gemeint ist die Sommerpause 2020. Es geschieht allerdings nichts in der Hinsicht. Corona wird als Grund angegeben.

Im November 2020

gibt es einen überraschenden Beschluss des Stadtrates. Eingereicht von den Fraktionen CDU und BfG. Er wird einstimmig gefasst:

1.Der Stadtrat erneuert seine Zustimmung zum fachlichen Ziel aus dem INSEK Fachkonzept Umwelt, Wirtschaft und Verkehr, Fortschreibung 2011 (S. 30) einer „Rückgewinnung verkehrlicher überformter Bereiche der Innenstadt für Verweilfunktionen, indem ruhender und fließender KFZ-Verkehr verlagert werden –insbesondere im Bereich Obermarkt“.

2.In Sinne dieses fachlichen Zieles wird der Oberbürgermeister beauftragt zu prüfen, wie und in welcher Weise der Obermarkt so umgestaltet werden kann (z.B. auch durch geeignete Begrünung), dass zum einen das Stadtklima in diesem Bereich positiv beeinflusst wird und zum anderen die Aufenthalts-und Lebensqualität von Nutzern und Anwohnern verbessert wird.

3.Der Oberbürgermeister wird auf der Basis dieser Zielvorstellungen beauftragt, Lösungsvarianten für den ruhenden und fließenden Verkehr am Obermarkt im Rahmen eines Gesamtverkehrskonzeptes zu entwickeln, und diese dem Stadtrat zur weiteren Befassung vorzustellen.

Politischer Wille ist also ein Gesamtverkehrskonzept unter der Zielstellung, insbesondere den Obermarkt zu entlasten (Foto). Es ist nicht bekannt, dass hierzu in den Bürgerrunden Vorschläge präsentiert wurden. Dem Stadtrat wurde seit dem Beschluss vor einem Jahr zumindest keine Idee vorgestellt. Stattdessen bekommen die Räte bei Diskussionen die Auffassung vom zuständigen Bürgermeister Dr. Wieler zu hören: Er geht davon aus, dass gar kein neues Verkehrskonzept nötig sei. Das gültige Konzept sei noch nicht abgearbeitet und müsste nur fortgeschrieben werden.

Im Juni 2021

beginnen mit einem Jahr Verzögerung Gespräche in den Stadtteilen zum Thema Verkehrskonzept. Bürger können ihre Ideen einbringen. Dazu schreibt die SZ am 10.6.21: „Der Görlitzer Stadtrat hat es im Juni 2011 als Vorgabe der Handlungsprioritäten in der Verkehrsplanung bis zum Jahr 2020 beschlossen. (…) Nun ist es endlich so weit. Nacheinander in allen Stadtteilen lädt OB Octavian Ursu die Bürgerräte sowie alle interessierten Bürger zu einer Präsentation und Diskussion zum Thema „Gesamtverkehrskonzept“ ein. Vorgestellt wird der Stand der Umsetzung des Verkehrskonzeptes. „Bei diesen Versammlungen wollen wir Ideen und Anregungen sammeln“, erklärte Ursu am Mittwoch im Verwaltungsausschuss.

Die Ergebnisse sollen anschließend den Stadträten in den Ausschüssen vorgestellt werden, wo die Räte „ganz in Ruhe darüber diskutieren“ können. Wenn sie sich einig geworden sind, soll es noch einmal Bürgerversammlungen geben. „Wir lassen uns also Zeit damit“, sagt Ursu.

Quelle: https://www.saechsische.de/goerlitz/lokales/goerlitzer-sollen-ueber-gesamtverkehrskonzept-mitentscheiden-buergerversammlungen-buergerraete-ob-octavian-ursu-5461022-plus.html

Keine Vorstellung in den Ausschüssen

Stattdessen obsiegt die Lust aufs Scheinwerferlicht. Die Rathausspitze plaudert Einzelheiten in der Öffentlichkeit aus, bevor es auch nur eine interne Diskussion gibt. Im Ergebnis berichtet die SZ am 7.10.21, als wäre vieles bereits in Sack und Tüten: Die untere Jakobstraße voller Menschen – und ohne ein einziges Auto. Was beim Straßenfest „Deine Jakobstraße feiert!“ schon Realität war, soll im Frühling zum Dauerzustand werden. Also nicht gleich für immer, aber zumindest erst einmal für einige Wochen oder Monate.

„Das war ein Wunsch von Görlitzern“, erklärt Bürgermeister Michael Wieler. (…) „Teilweise kamen auch ganz konkrete Vorschläge von Bürgern, beispielsweise die Sperrung der unteren Jakobstraße oder der Bismarckstraße für den motorisierten Verkehr.“ Das könnte eine Aufwertung für die Wohnungen in diesen Straßen bringen. Beides will die Verwaltung jetzt mit einem Verkehrsversuch testen. Und mindestens noch eine dritte Veränderung: Am Ostring in Königshufen. „Dort hatten Bürger eine Einbahnstraße angeregt und auch das wollen wir mal versuchen“, sagt Wieler. Eventuell kommen auch noch weitere Straßen hinzu. Nach den Bürgerversammlungen seien nämlich noch 20 bis 30 weitere Anregungen von Bürgern eingegangen. Die seien noch nicht komplett ausgewertet. Aber falls dort auch noch ein realistischer Vorschlag dabei sein sollte, könnte auch dieser ausprobiert werden.

Wichtig ist Wieler, dass nicht einfach nur Straßen gesperrt werden, sondern dass vorab auch ein gutes Konzept erarbeitet wird, wie der Verkehr stattdessen geführt werden soll: „Das muss auf jeden Fall passieren, sonst hat es keinen Sinn.“

Quelle: https://www.saechsische.de/goerlitz/verkehr-baustellen-goerlitz/goerlitz-will-strassen-fuer-autos-sperren-verkehrsversuch-untere-jakobstrasse-bismarckstrasse-ostring-5539797-plus.html

Es folgen – erwartungsgemäß – Proteste und eine Diskussion, die kontraproduktiv ist.

Im Technischen Ausschuss am 23.11.2021

bekommen die Stadträte eine Vorstellung zu den Ergebnissen der Bürgerrunden und einen Ausblick aufs weitere Verfahren. Also rund sechs Wochen nachdem das Rathaus die Öffentlichkeit informierte. Unsere Mitschrift aus dem Ausschuss:

  • Es gab 8 Veranstaltungen im Juni/Juli 2021, 110 Teilnehmer wurden auf Listen erfasst, es gab Mehrfachteilnahmen, z.B. von Vertreter*innen des BUND
  • Größte Beteiligung in Altstadt, Südstadt, Innenstadt Ost (25, 22, 20 Teilnehmer)
  • 34 schriftliche Rückmeldungen gab es bis Oktober, Zitat des Berichterstatters: „augenscheinlich beteiligten sich vorrangig Anhänger einer Verkehrswende“
  • Bei Hinweisen, die auf konkrete Straßen oder zu konkreten GVB-Themen gehören, gab es gesonderte Sofortprüfung, teilweise werden schon Schritte eingeleitet 
  • Fokus auf Umweltverbund (ÖPNV, Rad, Fuß, Verkehrsberuhigung, Barrierefreiheit, Parken), nur geringe Hinweise zu Autoverkehr
  • Stellungnahmen „eher pro Stellplätze“, 
  • pro ÖPNV (Ausbau Streckennetz, Fahrplanangebot verbessern, Barrierefreiheit), kostenlose City-Zone nach Augsburger Vorbild
  • Pro Radverkehr (mit Ausnahme der Kritik an umgekehrter Einbahnstraße auf Jakobstraße), Ausbau Radewegenetz und Abstellanlagen
  • Pro Fußgänger (kurze Wege, Querungen verbessern, Barrierefreiheit)
  • Pro E-Mobilität (Ausbau Ladeinfrastruktur, Verleihsysteme mit niedrigschwelligem Zugang)
  • Gewünschte Verkehrsversuche, die angesprochen wurden: (Ostring, Obermarkt/Klosterplatz, Jakobstraße, Bismarckstraße, Moltkestraße, Südausgang/Sattigstraße)

Weitere Schritte:

  • Durchführung eines Workshops (5 Thementische, 5 Leute je Fraktion, Stadträte und/oder Expertinnen, Durchführung Anfang 2022, darin auch Klärung Verkehrsversuche) und 
  • Repräsentative Befragung über Projekt der TU Dresden (es gab eine letzte Haushaltsbefragung 2006 als Grundlage für jetziges Verkehrskonzept), Durchführung 2023 mit 1.000 Personen, im Ergebnis haben wir Aussagen zu Kennziffern (Anteile Auto, ÖPNV, Rad, Fußgänger), dauert bis Ende 2024/Anfang 2025
  • Demnächst soll es gesonderte Vorstellung zu E-Mobilität in den Ausschüssen geben

 

Motor Görlitz/Bündnisgrüne lädt interessierte Görlitzerinnen und Görlitzer ein, auf dem Fraktionsticket an dem Workshop teilzunehmen. Meldungen bitte an kontakt@fraktion-motor-goerlitz.de mit kurzer Vorstellung der Person und der Motivation.

 

Fazit

Durch die ewige Hängepartie beim Gesamtverkehrskonzept kommen wir stadtpolitisch immer wieder in eine Sackgasse. Gutgemeinten Anträgen fehlt die Basis, wie dem von CDU/BfG zu temporären Stadtmöbeln in verkehrsberuhigten Bereichen. Bevor wir über konkrete Verkehrsversuche entscheiden, wozu das Aufstellen von Popup-Stadtmöbeln gehört, brauchen wir das Verkehrs- und Mobilitätskonzept. Davon leiten sich Straßen/Plätze ab, die teilweise oder ganz vom Verkehr entlastet werden könnten. Erst dann macht es Sinn, dass man Überlegungen anstellt, wie man den Freiraum gestaltet und nutzt. Das sollte auch nicht der Stadtrat „vordenken“, sondern von den Anwohnern und Gewerbetreibenden kommen.

Die schleppende Arbeit am Gesamtverkehrskonzept hält uns auch bei grundlegenden Themen auf. Eine Verdopplung von Stellplätzen im jetzigen Parkhaus City Center kann nicht ohne ein Gesamtkonzept erörtert werden. Deshalb fehlt der Diskussion darüber die Substanz. Nicht nachvollziehbar ist für Motor Görlitz/Bündnisgrüne die Aussage in der Sächsischen Zeitung, dass erst mit Fertigstellung der Befragung das Verkehrskonzept beschlossen werden könne. 

Quelle: https://www.saechsische.de/goerlitz/verkehr-baustellen-goerlitz/so-steht-es-um-das-goerlitzer-gesamtverkehrskonzept-parkhaeuser-verkehrsversuche-strassenbegleitende-bebauungen-5575289-plus.html

Wir sind nicht bereit, bis 2025 zu warten. Es gibt gute Alternativen zur Befragung durch die TU Dresden. Diese werden wir in den Ausschüssen und im Stadtrat thematisieren. Wir brauchen mehr Tempo und weniger Ausreden.