Subjektiv gefärbter Bericht aus dem Stadtrat vom 25.1.2024
Diesmal bin ich nur Zuschauer des Livestreams. Außer Gefecht gesetzt, ein echter Influenzer. Es gibt wenige Beschlüsse, dafür gleich drei Informationen.
Für alle Lesefaulen bereits an dieser Stelle der Servicehinweis – ihr könnt den Bericht auch gern als Podcast hören.
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Probewohnen
Prof. Robert Knippschild vom Leibniz-Institut stellt die Ergebnisse des jüngsten Probewohnens vor. In der letzten Runde waren 18 Haushalte für drei Monate auf Probe in Görlitz. Ihnen wurden Wohn- und Arbeitsräume gestellt. Ein besonderer Fokus lag diesmal beim Thema „Stadt der Zukunft“, also in der Nachhaltigkeit. Das Team von Prof. Knipschild hat die Teilnehmenden ausführlich befragt und daraus Handlungsempfehlungen entwickelt. Es handelt sich um eine qualitative Studie.
Wesentliche Erkenntnisse: Görlitz ist interessant für Großstadtmüde. Vor allem junge Familien werden angelockt aber auch Leute, deren Kinder aus dem Haus sind, orientieren sich häufig neu. Wesentliche Motivation ist der verfügbare Raum, den Görlitz bietet. Freiraum. Zum Wohnen, zum Arbeiten, zur gesellschaftlichen Teilhabe. Als attraktiv empfanden die Probewohner außerdem die lebenswerte Stadt, die geringen Mieten, die kurzen Wege und das rege Vereinsleben. Negativ bewertet wurden die Anbindung an das überregionale Eisenbahnnetz und der hohe Anteil an PKW-Verkehr in der Innenstadt. Außerdem wurde deutlich, dass allein die Anzahl von freien Wohnungen nicht aussagefähig ist. Oftmals passen Lage, Zuschnitt oder Zustand nicht mit den Wünschen von Neubürgern überein.
Was fangen wir damit an? Wir sollten verinnerlichen, dass wir Zuzug brauchen. Diesen Zuzug werden wir vorrangig aus Großstädten generieren. Damit kommen bestimmte Wünsche und Lebensphilosophien nach Görlitz. Es wäre aber ein Fehler, nun auf Großstadt zu machen. Wir sollen unsere spezifischen Qualitäten pflegen. Die Schönheit ist dabei Fassade. Was zählt sind die Menschen. Görlitz hat für seine Größe eine quicklebendige Stadtgesellschaft, es fällt leicht sich einzubringen und Anschluss zu finden. Wir sollten alles dafür zu tun, damit wir die bestehenden Angebote, unsere Vereinslandschaft stärken und nicht für einzelne Prestigeprojekte gefährden.
Natürlich gibt es eine Diskussion zum Vortrag. Sie ist teilweise unterirdisch und faktenfern. AfD-Stadtrat Torsten Koschinka missfällt, dass die Probewohner zumeist aus freien Berufen kamen und der Kreativwirtschaft zuzurechnen sind. Diese Kreativwirtschaft macht er in dem Zusammenhang recht dümmlich zur Sau. Zitat: „Ich denke da immer an die Fabel von der Ameise und der Grille, ja man braucht auch Künstler… Da kommen also Leute her, weil sie für drei Monate kostenlos hier wohnen und in der Zeit so Sachen machen wie Tanzen, Schauspielern, Herumjournalisten oder Modedesignen – daraus wollen wir schlussfolgern, dass wir zu viel Verkehr in der Stadt haben?“ – Unwissenschaftlich sei das.
Nun ja. Prof. Schulze von Grünen hat wohl Recht mit seiner Vermutung, dass Kollege Koschinka in Sachen Forschungsmethodik nicht auf dem neuesten Stand ist. Und Danilo Kuscher von Motor rückt das Bild der Kreativwirtschaft zurecht. Die Branche ist doppelt so stark wie die Chemieindustrie in Deutschland und hat mit vor sich hin träumenden Grillen rein gar nichts zu tun. Unter anderem zählen Architekten, Softwareentwickler und die komplette Medienwirtschaft dazu. Sie alle hat der Universalgelehrte Koschinka in einen Sack gesteckt und lächerlich gemacht.
Da ist mir AfD-Kollege Duschek lieber. Denn der ist ehrlich. Er hat den Anschluss an die Themen verloren, der Zug ist für ihn abgefahren. Er sagt in der Diskussion: „Seit vielen Jahren höre ich Fachkräfte, Fachkräfte, Fachkräfte – ich fühle mich belästigt, wenn man das hier eingehämmert bekommt. Ich sehe das als ideologische Pauke und verstehe den ganzen Mist nimmer.“
Mit der Einstellung werden wir nicht weiterkommen. Görlitz hat gute Zukunftsaussichten. Wir werden weiter um Zuzug werben. Da gehört das Probewohnen dazu. Danilo Kuscher betont, dass Görlitz sich damit bundesweit einen Namen gemacht hat. Viele interessieren sich für diesen Görlitzer Weg. Schon deshalb sei das Projekt ein Erfolg. Es soll fortgesetzt werden. Prof. Knippschild hofft ab Jahresmitte. Dann sollen Spitzenforscher angelockt werden, denn das DZA und Co. brauchen gute Leute in der Stadt.
Prävention
Anschließend stellt der Kommunale Präventionsrat (KPR) seine Arbeit vor. Maria Schubert ist unsere Fachfrau dafür. Im KPR der Stadt Görlitz wirken verschiedene Personenkreise mit. Neben einem Lenkungsgremium, welches aus Stadtverwaltung, Polizei, Wirtschaft und Zivilgesellschaft besteht, agieren Arbeits- und Projektgruppen. Dazu gehören die AGs „Beziehungsgewalt“ und „Öffentlicher Raum“. Gut in Erinnerung sind die Mitmach-Projekte „Sauberes Görlitz“ und „Fahrradständermelder“. Eine gute Sache dieser KPR, zumal sich Görlitz mit anderen Kommunen permanent im Austausch befindet und wir gute Beispiele übernehmen können.
Medizinisches Labor / Klinikum Görlitz
Bericht 3 kommt von der Geschäftsführerin des Klinikums, Ines Hofmann. Es geht um den seit September dauernden Arbeitskampf der Kolleginnen vom Medizinischen Labor. Das wurde vor Jahren ausgegründet, die Mitarbeiterinnen wünschen sich Tarifverhandlungen. Sie verweisen darauf, dass es für die Beschäftigten im Klinikum einen Haustarifvertrag gibt. Die Geschäftsführung möchte die Wünsche ohne Tarifvertrag erfüllen. In öffentlicher Sitzung im Stadtrat darüber zu diskutieren, empfinde ich als suboptimal. Dafür gibt es gewählte Gremien wie den Aufsichtsrat. Ohne Kenntnis von Zahlen und Fakten würde ich mir kein Urteil erlauben. Sollte sich die Situation verschärfen, muss sich der Stadtrat gesondert damit befassen. Nichtöffentlich, denn es geht hier auch um Unternehmensinterna.
In der Bürgerfragestunde geht es um Streetworker für die Innenstadt West. Gefordert von Bürgerrat Kurt Bernert. Kinder würden immer aggressiver. Die Gefahr spitze sich zu, so seine Auffassung. Ordnungsamtsleiter Uwe Restetzki schlägt hier einen guten Bogen zum Kommunalen Präventionsrat. In der AG Öffentlicher Raum ist es Thema. Es gibt in der Stadt eine aufsuchende Kinder- und Jugendarbeit, wo Vereine genau an diese Schwerpunkte gehen. Reicht alles nicht, sagt Kurt Bernert, die Problem-Kids auf dem Lutherplatz gehen nicht ins Camaleon oder die Rabryka oder in die CaTeeDrale, sie müssen vor Ort aufgefangen werden. Wichtiger Hinweis, ich hoffe, das wird ernstgenommen.
Dann meldet sich eine Neugörlitzerin, die seit drei Jahren mit ihrem Mann in Görlitz lebt. Sie möchte wissen, ob es Bemühungen seitens der Stadt gibt, die Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung zu steigern. Sonst müsste man immer neue Menschen hinzugewinnen, was aus ihrer Sicht den sozialen Zusammenhalt nicht fördert. Der OB erläutert ihr unsere Ansätze in Sachen Kitas, Schulen und Co. Ich bemerke, wie ich bei der Frage zusammenzucke. Hypersensibel? Vielleicht.
Ich kann der pauschalen Aussage jedenfalls nicht zustimmen, dass Neubürger schlecht für den sozialen Frieden seien. Oder anders ausgedrückt: Wenn wir attraktiv sind für Kinder, Jugendliche und Familien, die hier leben, dann werden wir auch Leute von auswärts anlocken. Und das ist gut so. Wir sind darauf angewiesen, denn die große Mehrzahl der „echten“ Görlitzer wird nicht mehr viele Kinder zur Welt bringen. Das hat nichts mit fehlendem Engagement zu tun, eher mit biologischen Gesetzen.
Fragestunde für Stadträte
Meine Kollegin Kristina Seifert leitet eine Bürgerfrage weiter. Ein Geschäftsinhaber möchte wissen, warum sich so wenig bei den E-Ladesäulen tut. Im letzten Jahr wurden Flächen ausgeschrieben. Die Stadtwerke erhielten den Zuschlag. Seitdem tut sich nichts aus Sicht des Bürgers. Gibt es denn keine Pflicht, mit dem Zuschlag auch loszulegen? Denn die Anzahl der E-Autos nimmt stetig zu, und es fällt bisweilen schwer, freie Ladeplätze zu finden. Die Verwaltung wird diese Frage schriftlich beantworten.
Die Stadträte Hans-Chrstian Gottschalk (BfG) und Maik Gloge (CDU) wollen wissen, wie realistisch es ist, das Neißebad auszubauen. Konkret geht es um ein überdachtes Außenbecken. Die Schwimmhalle ist hoffnungslos ausgebucht. Vereine können nicht mehr alle Trainingszeiten abdecken. Kinder warten zu lange auf ihren Schwimmkurs. Bürgermeister Benedikt Hummel ist offen und ehrlich. So ein Projekt ist derzeit nicht darstellbar.
SZ-Chef Sebastian Beutler hat das völlig anders wahrgenommen und kommt mit der Headline: Görlitz schließt Bau einer zweiten Schwimmhalle nicht mehr aus. Nanu?
Zum Glück habe ich mitgepinselt, was der Bürgermeister gesagt hat. Er spricht davon, dass wir den Bedarf im Rahmen der Sportstättenentwicklungskonzeption erheben. Damit wir wissen, worüber wir sprechen. Im nächsten Schritt muss man sich anschauen, so Hummel, was das für den Standort Neißebad bedeutet. „Kann ich da einfach was dranbauen, reicht dann die Technik vor Ort aus, was ist mit der Umkleideinfrastruktur?“ Und jetzt kommts wohl zum Irrtum: Hummel redet nicht über einen anderen Standort, sondern er sagt: „Da redet man im Grunde über ein ganz eigenes Bad.“ Und zur Zeitschiene: „Wir sind auf dem Weg, aber es ist ein langer Weg bis wir zum Bauen kommen.“ Kein Wort über eine weitere Schwimmhalle. Wie auch?
Damit bleibt das Problem der zu knappen Kapazitäten in den nächsten Jahren. Es gibt zum Glück einen Kompromiss bei der Sportförderung. Wer im Neißebad keine Trainingszeiten erhält und dafür in die Schwimmhalle Zgorzelec ausweicht, kann die Nutzungsgebühren über die Förderrichtlinie abrechnen. Das war bislang nur in Ausnahmefällen möglich. Gemeinsam mit dem Kreissportbund und der Abteilung Triathlon des Europamarathon e.V. habe ich mich dafür lange im Sportausschuss eingesetzt und freue mich über die Lösung.
Danilo Kuscher möchte wissen, ob es nun doch eine Chance gibt, den Berzdorfer See nur für E-Motoren freizugeben. Das suggerierte zumindest ein SZ-Bericht über das Ferienressort Insel der Sinne. Dort beklagt man sich über Motorboote auf dem See. Ministerpräsident Kretschmer dachte daraufhin laut über eine Unterscheidung zwischen E-Motoren und lärmenden Booten nach. Die SZ griff es auf. Wir wunderten uns. Denn genau diese Unterscheidung war expliziter Wunsch des Stadtrates. Und wird es auch bleiben. Denn, so der OB, die SZ hat das Ende der Geschichte nicht veröffentlicht: Ohne Änderung des Sächsischen Wassergesetzes ist diese Unterscheidung nicht möglich. Also schauen wir hoffnungsfroh nach Dresden, ob sich der Landtag dazu aufrafft.
Nach drei Stunden Sitzung ist dann für die Stadträte endlich Pause. Nach Bockwurst und Schnittchen kommt unsere Finanzchefin Birgit Peschel-Martin und erläutert uns die Haushaltslage. Das ist immer zur Mitte eines Doppelhaushaltes so. Ich kürze das deutlich ein, da sich die vielen Zahlen nicht gut verdauen lassen. Also: Das Jahr 2023 lief deutlich besser als im Haushalt geplant. Das Ergebnis liegt rund 4,5 Millionen Euro höher als angenommen. Das hängt vor allem mit einem Plus bei den Gewerbesteuern zusammen. 2024 wird dafür um ca. 1,5 Millionen Euro schlechter enden als angenommen. Wenn es denn so kommt. Haushaltsplanung hat schon was von Lotto spielen. Viele Annahmen treffen nicht ein. Die Weltlage ist instabil, die Stimmung mies. Insofern ist vorsichtiges Wirtschaften sinnvoll.
Durch die insgesamt verbesserten Zahlen kommt Görlitz bis Ende 2024 mit seinen Rücklagen aus. Ab 2025 sind die Kassen leer. Wie wir das strukturelle Defizit aus Einnahmen und Ausgaben in Höhe von 10 Millionen Euro – nur für das Jahr 2025 – decken wollen, muss ein Sparkonzept zeigen. Unsere Fraktion hätte damit gern schon längst begonnen. Wir leben über unsere Verhältnisse. Das schreibt uns auch die Rechtsaufsicht ins Stammbuch und fordert ein Haushaltsstrukturkonzept bis Ende Februar. Der OB möchte wegen der leicht verbesserten Zahlen aber einen Aufschub und das Sparkonzept erst mit dem nächsten Doppelhaushalt erarbeiten. Diesen Doppelhaushalt werden wir frühestens Ende 2024 bearbeiten. Also nicht wir, sondern der dann neu gewählte Stadtrat erbt diesen Berg an Defizit. Jana Krauß und Danilo Kuscher von meiner Fraktion fühlen sich dabei unwohl, zumal neu gewählte Stadträte erst einige Zeit brauchen, um sich einzuarbeiten. Das ficht den OB nicht an. Wer sich zur Wahl stellt, muss damit leben. So wirbt man freilich nicht um Stadtratskandidaten.
Weiteres Problem, das unsere Fraktion anspricht: Durch die fehlenden Rücklagen müssen Investitionen, die über das Jahr 2024 hinausreichen, gesondert betrachtet werden. Nicht alles, was wir uns vorgenommen haben, wird sich umsetzen lassen. Große Ausnahme laut Sächsischer Zeitung soll die Stadthalle sein. Das wundert nicht. Welche Vorhaben betroffen sind, weiß die Stadtverwaltung selbst noch nicht. Achtung Sarkasmus: Vielleicht lassen wir das Dach der Jahnhalle undicht, dann lösen wir direkt das Problem mit den fehlenden Kapazitäten für den Schwimmsport.
Fazit: Görlitz hat einen Haushalt, der bis Ende 2024 funktioniert. Was danach kommt, ist komplett unklar.
Letzter Tagesordnungspunkt ist ein Antrag der AfD. Sie wollen die Bezahlung des Tierheims Krambambuli verbessern. Dieses Ansinnen wird von der Realität eingeholt. Noch vor der Stadtratssitzung erklärt der Tierschutzverein dem Oberbürgermeister, dass er den Betrieb des Tierheims zum Jahresende aufgeben wird. Nun müssen wir bis dahin eine neue Lösung finden. Denn das Unterbringen von Fundtieren ist eine kommunale Pflichtaufgabe.
Ich habe zu diesem Thema schon zahlreiche Fragen bekommen. Nein, es ist nicht das Geld allein, das zum Aus führt. Es ist ein komplexes Thema, das von Grund auf neu gedacht werden muss. Wer sich intensiver mit den hiesigen Tierheimen beschäftigt, weiß, dass Görlitz im regionalen Vergleich seit langem hinterherhinkt. Es gibt viel zu tun, mit Hilfe der vielen ehrenamtlichen Tierfreunde in der Stadt kann ein guter Neuanfang gelingen.
Damit geht die erste Sitzung 2024 zu Ende. Der Livestream ist eine feine Sache. Noch lieber bin ich mittendrin und freue mich auf Februar.
Text und Foto: Mike Altmann